Notstandszensur
Ulrike Marie Meinhof
Joachim Fest oder Die Gleichschaltung
"Am 4. Juli brachte
PANORAMA unter der Leitung von Joachim Fest eine dreiviertelstündige Sendung
über die Notstandsgesetze. Es war die schärfste Kritik und klarste Darstellung
dieses Gesetzgebungswerkes, die dem Millionenpublikum des Deutschen Fernsehens
je vorgeführt worden ist. In den gleichen Tagen hatte sich Kai‑Uwe von
Hassel im Deutschen Bundestag wegen Vorwürfen, die Panorama gegen ihn erhoben
hatte, zu rechtfertigen. Die Wahlen in Nordrhein‑Westfalen und damit eine
erneute Diskussion der Großen Koalition standen bevor. Da wurde Joachim Fest,
fünf Tage nach seiner Notstandsgesetzsendung, von seinen Aufgaben als Leiter
und Moderator von Panorama zum 1. Januar 1967 ‑ gegen seinen Willen ‑
entbunden.
Seitdem die SPD nur noch
formal Oppositionspartei ist, in fast allen politischen Sachfragen dagegen mit
der Politik der Bundesregierung kollaboriert, in vielen mißlichen Lagen der
Regierung das Gesicht wahren hilft, ist politische Opposition in der Bundesrepublik
zunehmend in Mißkredit geraten, Kritik verpönt.
Die Große Koalition braucht
keine Kritiker, nur noch Interpreten. Große‑Koalitions‑Politik
setzt die Umwandlung von Interessenparteien in Volksparteien voraus, die
Bagatellisierung ‑ mit anderen Worten ‑ von Interessengegensätzen
in Staat und Gesellschaft zugunsten höherer Ziele. Wer aber die Maßnahmen von Volksparteien
kritisiert, kann leicht dem Verdacht ausgeliefert werden, er kritisiere das
Volk selbst und dessen von den Parteien artikulierten Willen.
Selbstverständlich, daß Volksparteien sich weniger durch Volksprogramme als
durch Volkspolitiker (am liebsten Volksredner) der Öffentlichkeit vorstellen.
Zu den Mitteln Großer‑Koalitions-Politik
gehören mit anderen Worten: Die Verdrängung politischer Sachdiskussion
zugunsten von Personalfragen ("neue Köpfe"!), die Unterordnung
politischer Meinungsverschiedenheiten unter ein alle Personen ergreifendes
Ziel. Was mit diesen Mitteln bewirkt wird, ist das, was man gemeinhin
Entpolitisierung nennt. Die Politik der Großen Koalition zielt nicht auf eine
regierungstreue Bevölkerung, sondern auf eine unpolitische. Regierungstreue
stellt sich dann von selbst ein.
Joachim Fest ist nicht das
erste Opfer dieser Entwicklung. Der Abgang seiner Vorgänger beweist es. Wohl
aber ist sein Fall symptomatisch für den derzeitigen Stand der Dinge.
Gesündigt hat Fest gegen die
Einigkeitsideologie der Parteien, die primär auf Antikommunismus basiert, der
in der Bundesrepublik die Funktion des Antisemitismus der NS-Zeit abgelöst
hat. Wer den Glauben an die alles erdrückende Bedrohung aus dem Osten
bedingungslos teilt, verzichtet darauf, Schwächen und Fehler ans Licht der
Öffentlichkeit zu zerren, die im zivilen und militärischen Bereich bei der
Abwehr dieser Bedrohung unterlaufen. Notstandsgesetze, Starfighterabstürze,
Vertriebenenpolitik, einen reaktionären Justizminister und illegale
Flugblattaktionen der Bundeswehr gegen die DDR bemäkelt nicht, wer sich dem
höheren Ziel dieser Maßnahmen verpflichtet fühlt, dem Antikommunismus.
Fest ist ein Einzelner. Große
Koalitionspolitik, angewiesen auf Verschleierung realer Interessengegensätze in
Volksparteien, gibt einzelnen keine Chance.
Es sieht so aus, als bliebe
Fest nichts anderes übrig, als sich ‑ willig oder unwillig ‑ ins
Dritte Programm abdrängen zu lassen oder zur Illustriertenpresse zu gehen, jenem
seiner Natur nach unpolitischen Medium, das schon anderen Narrenfreiheit gab,
weil sie dort nicht mehr als Außenseiter sein können: Er käme in individuelle
Gesellschaft. Es bliebe ihm freilich auch die Möglichkeit, Bücher zu schreiben,
die wiederum nur jene lesen, die die Zeichen der Zeit auch so verstehen. Die
Große Koalition schickt den Einzelnen, der den Anschluß verweigert, in die
Isolation. Es wäre gut, wenn Fest das nicht kampflos mit sich geschehen ließe.«
Quelle: konkret 8 / 1966, S. 2, gekürzt