Notstandsgesetze
Diese Versammlung, viele liebe
bekannte Gesichter, hat einen Schönheitsfehler. Sie tagt zwar vor der Kamera,
aber hinter verschlossenen Türen. Die Avantgarde im Kampf gegen die Notstandsgesetze
steht draußen. Sie hat nämlich keine Eintrittskarten bekommen. Offenbar sollen
wir unter uns bleiben. Offenbar will man uns traktieren wie eine Horde von
Geistesfürsten. Offenbar halten uns die Veranstalter für prominent. Offenbar
soll hier ein Unterschied gemacht werden zwischen dem sogenannten Druck der
Straße und dem Protest, der sich im Sperrsitz ein gutes Gewissen macht.
Diese geschlossene
Gesellschaft ist die gespensterhafte Karikatur einer andern Honoratioren‑Versammlung.
In der Frankfurter Paulskirche haben sich 1848 ein paar hundert bürgerliche
Professoren, Schriftsteller und Advokaten versammelt. Es war kein einziger
Student und kein einziger Arbeiter dabei.
Sie wissen ja, wie die
Geschichte ausgegangen ist. Die Herren haben im Herbst 48 die Armee rufen und
vor den Türen der Paulskirche auf die gewöhnlichen Leute schießen lassen. Dann
haben sie sich mit der preußischen Reaktion verbündet. Geholfen hat es ihnen
wenig; denn am Ende haben die Soldaten sie zum Dank mit dem blanken Säbel
auseinandergetrieben.
Das ist eine lehrreiche
Geschichte. Ihre Moral hat der damalige Bundeskanzler, Friedrich Wilhelm IV.,
unübertrefflich formuliert. Er sagte nämlich, und damit hat er recht behalten
bis auf den heutigen Tag: »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.«
Das ist, auf den alten
historischen Kern gebracht, der Inhalt der Notstandsverfassung. Und warum muß
erst die Polizei, und dann der Bundesgrenzschutz, und dann das Militär gegen
Demokraten helfen?
Weil die Herrschaft einer
winzigen Minderheit, die Herrschaft des Kapitals, mit andern Mitteln nicht mehr
aufrechtzuerhalten ist. Deshalb enterbt das sieche Parlament sich selber;
deshalb verkündet das System ganz offen das Ende seiner Legitimität. Und
deshalb hat es keinen Zweck, wenn die lieben bekannten Kulturpersönlichkeiten
unter sich bleiben und das anmelden, was bekannte Kulturpersönlichkeiten eben
anmelden, nämlich Bedenken. Die Notstandsverfassung wird keinen Sperrsitz
respektieren. Sie wird solche Versammlungen wie diese hier mit Tränengas
auseinandertreiben, wenn es erst soweit ist. Die Kapitalisten und die Partei‑
und Gewerkschaftsbosse, die uns regieren, werden nicht auf uns hören. Sie
werden sich taubstumm stellen, genauso wie De Gaulle und Pompidou, bis wir zusammen
mit den Studenten und den Arbeitern auf die Straße gehen und uns ein bißchen
deutlicher äußern. Auf der Straße gibt es keine Prominenten mehr, und zum
Streik brauchen wir keine Eintrittskarte.
Die Lehre ist klar: Bedenken
sind nicht genug, Mißtrauen ist nicht genug, Protest ist nicht genug. Unser
Ziel muß sein: Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische
Zustände.
Was Hans Magnus Enzensberger am 28. Mai 1968 zwei Tage vor der
Verabschiedung der Notstandsgesetze durch den Bundestag vortrug, trieb auch
viele Studenten um. Neben der Aufrüttelung der deutschen Öffentlichkeit
hinsichtlich der Schweinereien der USA in Vietnam, war der Kampf gegen die
Notstandsgesetze ein wesentlicher Pfeiler in der Entstehung der 68er Bewegung.
Bundesinnenminister war damals der unselige Rotarier Ernst Benda, dessen
Vorfahren früher einmal Ben David gehießen haben. Was er als Rechtsanwalt in
Berlin in Wiedergutmachungsmandaten getrieben hat, kann in einem anderen
erschreckenden Beitrag auf dieser Homepage nachgelesen werden. Aber Rotarier
sind nun mal so. Sie fühlen sich verbunden in einer "Verschwörung der
Anständigkeit". Für "Anständigkeit" haben diese sich sehr elitär
dünkenden Herrschaften eine eigene Nomenklatur, die dem Normalbürger als
Begriffsverwirrung erscheinen muß.