Das Narrenkarussell dreht sich weiter
"Kampf gegen Rechts": Die gegenwärtige Aufgeregtheit im Lande
erlaubt tiefe Einblicke in die deutsche Befindlichkeit
Der 30jährige Aushilfskellner
Gianni C. ist am 14. Mai um 4.30 Uhr, in der Nacht vom Samstag zum Sonntag, auf
dem S‑Bahnhof Berlin‑Alexanderplatz mit einer Kopfplatzwunde und
einem gebrochenen Knie aufgefunden worden. Er behauptete, Skinheads hätten ihn
wegen seiner italienischen Herkunft zusammengeschlagen. Die Umstände, die er
schilderte, waren merkwürdig. Als Tatzeit gab er ein Uhr an. Bis zu seinem
Notruf hätte er also dreieinhalb Stunden verstreichen lassen, in denen er
unnötig höllische Schmerzen ertrug. Der behauptete Tatort im Szene‑ und
Bohemeviertel Prenzlauer Berg befindet sich an einer belebten Kreuzung. Hier
begegnet man allen möglichen Leuten, aber keinen Skinheads. Zeugen für den
Überfall gab es nicht, ungewöhnlich für diese Zeit an diesem Ort. Schließlich:
Der Alexanderplatz liegt so weit entfernt, daß man den Weg nicht einmal mit
verstauchtem Knöchel, geschweige denn mit gebrochener Kniescheibe schafft.
Trotzdem trat der Staatsschutz
in Aktion, schrieen die Medien Zeter und Mordio, mußte der Berliner
Polizeipräsident darüber aufklären, ob in Berlin "Angsträume" oder
"verbotene Zonen" ("No‑Go‑Areas") für Ausländer
existierten. Die Wut‑und‑Trauer-Kompanien krähten, das sei doch
nur die Spitze des Eisbergs, und mehrere hundert Menschen versammelten sich zu
einer Demonstration gegen Rassismus und Rechts. Ein Vertreter der italienischen
Botschaft eilte ins Krankenhaus, die italienische Presse schrieb vom "Rassismus‑Alarm
in Berlin". Bis eine Überwachungskamera auf dem Bahnsteig endlich zutage
brachte, daß Gianni C. in Wahrheit besoffen ins Gleisbett gefallen war.
Inzwischen ist er in Untersuchungshaft genommen worden.
Linker Alarmismus und deutsche Gemütskultur
Obwohl man sehr früh wissen
konnte, daß es sich um eine Steigerung des Medienskandals von Potsdam handelte,
wo eine Straftat voreilig politisiert wurde, drehte sich das in Gang gesetzte
Narrenkarussell unerbittlich weiter. Uwe Karsten Heye, fast vergessener
ehemaliger Regierungssprecher, Chefredakteur der SPD‑Zeitung Vorwärts und Vorsitzender des Vereins "Gesicht zeigen", ein typischer
Lobbyvertreter also, nahm diesen virtuellen Rechtsextremismus zum Anlaß,
dunkelhäutige Gäste der FußballWeltmeisterschaft vor dem Besuch des Berliner
Umlandes zu warnen, weil sie dort nicht mehr lebend wegkämen. Seitdem haben
wir, was in Deutschland eine "Debatte" heißt, eine sinnfreie
Veranstaltung also, bei der, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht,
nichts Vernünftiges herauskommen kann.
Prüfen wir zunächst den
sachlichen Gehalt von Heyes Aussage. Selbstverständlich gibt es in Deutschland
wie in anderen Ländern auch Gegenden, die für bestimmte Personengruppen
gefährlicher sind als für andere. Für deutsche Schüler sind Schulen in Berlin-Neukölln
oder Kreuzberg riskant, Afrikaner können einige Gegenden Brandenburgs nur mit
Vorsicht betreten, und in den Pariser Banlieues ist Mitteleuropäern generell
größte Vorsicht anzuraten. Wie geht man damit um? Zu Beginn der neunziger Jahre
waren deutsche Touristen in den Vereinigten Staaten wiederholt Opfer von Überfällen
geworden, es gab sogar Morde, in der hiesigen Presse gab es Tartarenmeldungen
über die "Jagd" auf Deutsche.
Amerikanische Tourismusfirmen
und Fluglinien schalteten daraufhin Anzeigen in großen deutschen Zeitungen.
Erstens bedauerten und verurteilten sie die Verbrechen. Zweitens wiesen sie
darauf hin, daß die Behörden alle Anstrengungen unternähmen, um die Taten
auszuklären und ähnliches in Zukunft zu verhindern. Drittens räumten sie
gefährliche Gegenden und Situationen ein und gaben Hinweise, wie das Risiko
sich minimieren ließe. Viertens stellten sie fest, daß die Vereinigten Staaten
ein sicheres und gastfreundliches Land und Reisende willkommen seien. Damit war
das Nötige in würdiger Form klargestellt. Warum geht das nicht in Deutschland,
woher der Hang zur Selbstzerfleischung nach innen und zur Selbsterniedrigung
nach außen ‑ gerade jetzt, so kurz vor der Fußball‑WM?
Läßt man die Lobbygruppen,
ihre Geld‑ und Machtinteressen einmal beiseite, muß man zuerst die
Mischung aus linkem Alarmismus und der traditionellen, apolitischen deutschen
Gemütskultur in Rechnung stellen, die in den achtziger Jahren den
vorpolitischen Raum eroberte und von dort aus die Politik belehrte. Es gibt
keine objektiven politischen Konflikte, sondern nur das Hitler‑Erbe in
uns, das wir endlich niederringen müssen, und dann herrscht Harmonie.
Der Fall des Gianni S. hat so
viele Vorläufer, daß man sich nach den Gründen für die anhaltende
Leichtgläubigkeit fragt. Nehmen wir nur die drei spektakulärsten Fälle der letzten
Jahre: In Potsdam war eine Sozialhilfeempfängerin angeblich von Skinheads aus
der Straßenbahn gestoßen worden und dabei schwer verletzt worden, in Halle an
der Saale sollten Skinheads einer Rollstuhlfahrerin ein Hakenkreuz in die Wange
geritzt haben, und im sächsischen Sebnitz behauptete eine Mutter, die ihren
kleinen Sohn verloren hatte, dieser sei von "Jungnazis" wegen seines
fremdländischen Aussehens vor den Augen Hunderter Badegästen ertränkt worden.
Stets sind es Menschen mit
psychischen und sozialen Problemen, für die der Skinhead‑Überfall ein
Mittel ist, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erfahren. Auch bei Gianni S.
scheint es sich um eine prekäre Existenz zu handeln. Fotos zeigen einen zart und
schüchtern wirkenden Mann. Seine Überführung in Untersuchungshaft gründet sich
darauf, daß er nach siebenjährigem Aufenthalt in Berlin noch immer keinen
festen Wohnsitz nachweisen kann. Überwiegend sind sie Neurotiker, die aus dem
Gefühl von Schuld oder Minderwertigkeit sich in Phantasien und Einbildungen
flüchten und Vorwände aufgreifen, um ihren realen Lebensproblemen auszuweichen.
Sie verdienen Nachsicht statt
Zorn, auf gar keinen Fall aber politische Wirkungsmacht, denn das ist der
Einbruch des Wahnsinns in die Politik. Warum wird der geduldet, ja gefördert? Weil
die Mischung aus zielgerichtetem Alarmismus und apolitischer Gernütskultur sich
zur gesellschaftlichen Neurose ausgewachsen und als solche verselbständigt hat,
gerade bei den Funktionseliten in Medien und Politik. Sie scheinen den neurotischen
Reflexen noch stärker unterworfen als der Durchschnittsbürger und peitschen die
Stimmung zusätzlich an. Das Land ist vom Kopfe her krank, Individualneurotiker
spüren, daß sie mit ihren Phantasien zu öffentliche Helden aufsteigen können.
Neurosen sind Reaktionsformen
auf die Belastung, die durch die Forderungen entstehen, welche von der sozialen
Außenwelt an das Individuum herangetragen werden. Auf der nächste Stufe senken
sie sich in das Innere ein und entfalten hier ihre soziale Macht. Nur bleibt
dem Individuum nicht verborgen, daß die Forderungen nach "Ausländerfreundlichkeit"
und "Anti-Rechtsextremismus" keiner Weltoffenheit, Lebens‑ und
Demokratiebejahung, sondern dem deutschen Selbsthaß, der Nie‑wieder‑Deutschland-Stimmung,
also einem pathologischen Ursprung entstammen. Man wagt den Forderungen nicht
offen zu widersprechen, sondern paßt sich ihnen an, und wer Karriere machen
will, affirmiert sie sogar ausdrücklich ‑ daher auch der pathologische
Eifer vieler Journalisten. Andererseits regen sich im Innern weiterhin Zweifel
und besseres Wissen, es kommt zu psychischen Spannungen. Tatsächliche oder
vermeintliche Gewalttaten, begangen von "Rechten" aus Gründen der "Ausländerfeindlichkeit",
bieten die Möglichkeit, ein emotionales Ventil zu öffnen, sich in Opfer‑Empathie
zu flüchten und sein schlechtes Gewissen über das eigene Mitläufertum zu
unterdrücken.
Eine problemorientierte
Debatte ist unter diesen Voraussetzungen unmöglich. Eine echte Analyse des
"Rassismus" in Deutschland hätte davon auszugehen, daß die
Funktionseliten jahrzehntelang gegen den Mehrheitswillen eine massenhafte
Armutszuwanderung geduldet, wenn nicht gefördert, die Diskussion darüber aber
faktisch verboten haben. Der stumme Groll darüber trifft nun, da die
Gesellschaft kippt, auch viele Ausländer, die wohlintegriert und uns willkommen
sein müßten. In der ehemaligen DDR kommt hinzu, daß diese Entwicklung als Form
des westdeutschen Kolonialismus empfunden wird, die Ablehnung der oktroyierten
Norm mithin doppelt stark ist. Daher auch die überdurchschnittliche
Gewaltquote, der Hinweis auf die niedrige Ausländerquote in Mitteldeutschland
geht am Kern der Sache vorbei.
Neurotische Gesellschaft stellt sich die Sinnfrage
Apropos: Im Dorf Pommelte in
Sachsen-Anhalt haben kürzlich vier Jugendliche beziehungsweise junge Männer -
sie heißen Morten, Steven, Kevin und Francesco ‑ einen zwölfjährigen
äthiopischen Jungen stundenlang gequält. Auch diese Untat wird als Beleg für
"rechte" Menschenverachtung verbucht. Der Psychologe Andreas
Marneros, Autor des Buches "Blinde Gewalt", beschäftigt sich mit
solchen Täterfiguren professionell. Er glaubt, daß 90 Prozent ideologie‑
und politikfrei handeln. Er konstatiert bei ihnen einen furchtbaren
Intelligenzmangel bis zur Demenz, die Biographien sind von Alkoholismus,
Gewalt, verwahrlosten Elternhäusern, erblichen Vorbelastungen, von Unfähigkeit
zu Mitleid und Reue geprägt. Allerdings scheut Marneros den nächsten logischen
Schritt, der darin bestehen müßte, den "rechten" Charakter solcher
Taten überhaupt zu bestreiten. Was wohl daran liegt, daß die verbleibenden 10
Prozent, die den harten, tatsächlich politischen und extremistischen Kern
bilden, zu wenig sind, um die staatspolitische Drohkulisse aufrechtzuerhalten.
Fällt die aber in sich zusammen, ergibt sich für die neurotische Gesellschaft
schlagartig die Sinnfrage, und die Analytiker und Therapeuten aus Politik und
Medien stellen sich als die wirklich bedürftigen Patienten heraus.
Quelle: Doris Neujahr in JUNGE FREIHEIT vom 26. Mai 2006