Moloch Berlin

 

Peter Kühne , ein Polizist, der die Nase voll hat

 

Peter Kühne ist 58 Jahre alt und Polizist in Berlin. Hier tut er schon 30 Jahre lang seinen Dienst. Er gehört zu den rund 16.000 Schutzpolizisten und 3.000 Kriminalbeamten, die in Berlin für Sicherheit sorgen sollen. Einer Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern, in der Russen dubiose Import/Export‑Geschäfte abwickeln, die Vietnamesen­-Mafia bis vor zwei Jahren blutige Bandenkriege um die Gewinne aus dem Zigarettenschmuggel austrug, türkische und libanesische Familienclans den Drogenmarkt beherrschen. 1997 registrierte die Polizei in Berlin 80 Morde, 9.471 Raubüberfälle, 12.569 Wohnungseinbrüche.

 

Peter Kühnes Alltag in diesem Moloch ist die Gewalt auf den Straßen, sind Autodiebstähle, nächtliche Ruhestörungen, betrunkene Randalierer und streitende Eheleute. Im Laufe der Jahre hat ihn allerdings immer mehr das Gefühl beschlichen, wie Don Quichote gegen Windmühlenflügel anzurennen. Kühne ist frustriert wegen einer Justiz, die ihm zu milde ist, seine Resignation wird jeden Tag größer. Und das, sagt er, geht den meisten Kollegen nicht anders.

 

Als er Anfang der 60er Jahre zur Polizei kam, hatte der Sohn eines Schneiders noch Ideale. Anderen helfen wollte er, ein vorn Bürger geschätzter Ordnungshüter sein. Seine damalige Begeisterung ist heute verflogen. Er verdient etwa 5.000 Mark brutto, lebt mit seiner Frau in einer kleinen Eigentumswohnung und wartet deprimiert auf seine Pensionierung.

 

Er ist enttäuscht von den Berlinern. "Früher war ich der Herr Wachtmeister, dann der Bulle und heute nur noch der Scheiß‑Bulle." Was den Schutzmann jedoch sichtlich wurmt, ist etwas anderes. "Der Staat ist heute ein zahnloser Tiger", sagt er, "der sich nur noch gegen anständige Bürger durchsetzen kann. Jeder Schwerstkriminelle lacht sich doch kaputt." Die Schuld gibt Kühne der Justiz. Nie wird er den Mann vergessen, den er vor Jahren festnahm, nachdem dieser einem anderen mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen hatte. Noch vor Feierabend sei der Täter im Revier aufgetaucht und habe mit einem Gerichtsbeschluß gewedelt. Der Richter hatte keinen Haftbefehl erlassen, sondern den Mann mit Meldeauflagen auf freien Fuß gesetzt. "Da stand er nun und grinste mich an. Das ist laufend so, die grinsen, wenn man sie festnimmt. Ich habe das oft genug erlebt."

 

"Die Arbeit die man macht, ist für die Katz", sagt Schutzpolizist Kühne. "Kaum ist ein Täter festgenommen, kommt er schon wieder frei. Verbrechen wird nur noch verwaltet." Härtere Strafen sind für ihn die einzige Alternative. Er verfolgt aufsehenerregende Kriminalfälle sehr genau. So den Fall des Serienkillers Wolfgang Schmidt, der ohne Bewachung die Psychiatrie in Brandenburg/Havel verlassen durfte. "Bestie von Beelitz" hatten ihn die Boulevardzeitungen 1992 getauft, nachdem er fünf Frauen und ein Baby getötet hatte. "Wenn ich mir vorstelle, dieser Mann würde meiner Frau was antun", sagt Kühne dumpf. "Den Arzt, der den rausgelassen hat, würde ich umbringen. Wenn ich das schon höre: Resozialisierung hat Vorrang vor dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger. Das ist doch Wahnsinn."

 

Die Auswirkungen der vermeintlich zu liberalen Justiz glaubt der Polizist im heutigen Berlin zu erkennen. Seine 83jährige Tante, berichtet Kühne, traut sich abends aus Angst vor Überfällen nicht mehr aus ihrer Wohnung. Weil sie sich davor fürchtet, Busse und Bahnen zu benutzen, bestellt sie lieber ein Taxi vors Haus. "Die hat echt Angst. Die gesamte Bevölkerung dieser Stadt hat Angst."

 

Und Kühne glaubt daß sich das nicht mehr ändern wird. Zumal die meisten Polizisten übervorsichtig agierten ‑ weil sie unmotiviert seien und Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt vermeiden wollten. Außerdem fühlten sie sich oft von der Polizeibehörde allein gelassen. Kühne: "Gibt es Zoff, badest du es immer selbst aus."

 

Quelle: PRIVAT-DEPESCHE vom 3.6.1998