Mindestlohn
Viele lateinamerikanische
Staaten, etwa Brasilien, sind bemüht, den Mindestlohn an die Steigerung des Bruttosozialprodukts
anzupassen. Soziales Elend wird von den unterschiedlichen Regierungen als ein
Fallstrick gesehen, der die gesamte ökonomische und soziale Entwicklung
unterläuft. Wachsende Kriminalität und eine allgemeine Verwahrlosung durch
Armut würden die Stabilität der Wirtschaftsregionen und der Städte erschüttern.
Letztlich würden die Auswirkungen von Armut die Mittelschichten erreichen.
Elend war ein Zersetzungsfaktor für Wirtschaft und Gesellschaft. Der Kampf
gegen die Armut wurde deshalb verbunden mit einer Überlebensgarantie der sozial
marginalisierten Schichten durch den Staat. Der Mindestlohn wurde an die
Haushaltsvorstände ausgezahlt und erlaubte dadurch das Überleben von
Großfamilien. Diese sozialen Gemeinschaften sorgten dafür, daß Kinder und
Jugendliche nicht in die Asozialität fielen. Aus diesen Gründen waren
konservative und linke Politiker Afrikas und Lateinamerikas dafür Mindestlöhne
einzuführen.
Dies
war übrigens in Europa eine Grundforderung der bürgerlichen Revolutionen des
18. und 19. Jahrhunderts. Liberale, Konservative und Radikale waren dafür, denn
Verarmung beschleunigte die sozialen Umbrüche und unterlief jede Ordnung. Die Gewerkschaften
kämpften für die gesetzliche Garantie von Mindestlöhnen nach 1918 und 1945, um
zu vermeiden, daß die Arbeitslosen den Besitzstand der Arbeitenden in Frage
stellten. Die Kluft zwischen der arbeitenden und der nichtarbeitenden
Bevölkerung durfte nicht zu groß werden. Erst die Einführung von Arbeitspflicht
in den roten und braunen Diktaturen erlaubte, das Lohnniveau auf den Standard
von Arbeitsdienst und Zwangsarbeit zu senken. Daß über die "Ein-Euro‑Jobs"
an dieses Kalkül angeschlossen werden soll, sagt viel aus über die Verwahrlosung
der politischen Klasse und "ihrer" Gewerkschaften.
Prof. Dr. Bernd Rabehl lehrte Politikwissenschaft an der FU Berlin
(JUNGE FREIHEIT 10.12.2004)