Lieb Vaterland

Lieb Vaterland, du hast nach bösen Stunden

aus dunkler Tiefe einen neuen Weg gefunden

ich liebe dich ‑ das heißt, ich hab dich gern

wie einen würdevollen, etwas müden alten Herrn.

 

Ich kann dich nicht aus heißem Herzen lieben

Zuviel bist du noch schuldig uns geblieben

die Freiheit, die du allen gleich verhießen

die dürfen heute Auserwählte nur genießen.

 

Lieb Vaterland, magst ruhig sein

Die Großen zäunen Wald und Ufer ein

und Kinder spielen am Straßenrand

Lieb Vaterland!

 

Lieb Vaterland, wofür soll ich dir danken?

Für die Versicherungspaläste oder Banken?

Für die Kasernen, für die teure Wehr?

Wo tausend Schulen fehlen, tausend Lehrer und noch mehr!

 

Konzerne dürfen maßlos sich entfalten

im Dunkel stehn die Schwachen und die Alten

für Krankenhäuser fehlen die Millionen

doch neue Spielkasinos scheinen sich zu lohnen.

 

Lieb Vaterland, magst ruhig sein

Die Großen zäunen ihren Wohlstand ein

die Armen warten mit leerer Hand

Lieb Vaterland!

 

Lieb Vaterland, wofür soll ich dich preisen?

Es kommt ein Tag, da zählt ein Mann zum alten Eisen

wenn er noch schaffen will, du stellst ihn kalt

doch für die Aufsichtsräte sind auch Greise nicht zu alt.

 

Die alten Bärte rauschen wieder mächtig

doch junge Bärte sind dir höchst verdächtig

das alte Gestern wird mit Macht beschworen

das neue Morgen, deine Jugend geht verloren.

 

Lieb Vaterland, magst ruhig sein

doch schlafe nicht auf deinen Lorbeern ein

die Jungen warten auf deine Hand

Lieb Vaterland!                                                                              (Eckart Hachfeld - 1971)