Leukämie bei Kindern in der Elbmarsch

 

1)    Neue Belege für Atomunfall in Geesthacht? Sozialministerium hält die neuen Untersuchung-Ergebnisse für Spekulation. (...) Das Sozialministerium bezeichnete die Vorwürfe als "abstrus und abwegig". Eine Sprecherin des Kieler Ministeriums sagte: "Das Ergebnis aller in der Vergangenheit durchgeführten Untersuchungen ist, dass es bei der GKSS (Forschungszentrum Geesthacht) und beim Kernkraftwerk Krümmel im Jahre 1986 weder eine Explosion noch einen Brand gegeben hat, bei denen Radioaktivität freigesetzt worden ist."

 

Quelle: Kieler Nachrichten vom 1./2.4.2006

 

2)    Hinweis auf Leukämie durch Atomunfall. In der Elbmarsch erkranken mehr Kinder an Blutkrebs als anderswo. Forscher fanden jetzt Spuren von angereichertem Uran im Boden. Sie könnten von früheren Experimenten mit einem neuen Brennstoff im Forschungsreaktor Geesthacht stammen. Warum erkranken Kinder in der Elbmarsch so häufig an Leukämie, wie kaum an einem anderen Ort? Ein Unfall im atomaren GKSS-Forschungszentrum im schleswig-holsteinischen Geesthacht im September 1986 könnte die späteren Leukämieerkrankungen ausgelöst haben. Zumindest wird diese These nach Auffassung der Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch untermauert von neuen Untersuchungen. Die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), unabhängige Experten und Vertreter der Bürgerinitiative stellten gestern (31.3.2006) Analysen von Bodenproben aus der Region vor, bei denen weitere Radionuklide nachgewiesen wurden. In dem betroffenen Gebiet, mit der Samtgemeinde Elbmarsch am niedersächsischen und zwei Atomanlagen, dem GKSS-Forschungszentrum und dem AKW Krümmel am schleswig-holsteinischen Elbufer, sind seit 1990 mittlerweile insgesamt 17 Kinder an Leukämie erkrankt. Erst vor gut einem Monat informierte das Deutsche Kinderkrebsregister in Mainz über einen weiteren Ende vergangenen Jahres aufgetretenen Fall. Auch das Kinderkrebsregister sprach von einer "deutlichen Häufung", für die man aber in einer Vielzahl von Untersuchungen keine Erklärung gefunden habe. Die jetzt analysierten Bodenproben wurden Ende 2004 an einer Schule in der Nähe des GKSS-Forschungszentrums und an einem Denkmal in der Gemeinde Elbmarsch genommen und durch die Internationale Sacharov-Umweltuniversität in Minsk analysiert. Dabei wurden neben angereichertem Uran verschiedene Thoriumisotope entdeckt. Bereits in der Vergangenheit waren in dem Gebiet Spuren von Plutonium und Americium nachgewiesen worden, die nach Meinung unabhängiger Experten ebenfalls nicht auf den Unfall von Tschernobyl zurückgehen können. Unstrittig ist seit langem, dass es im GKSS-Forschungszentrum im September 1986 einen Brand gab, dass dadurch dort eine Messstation ausfiel und dass zeitgleich im benachbarten AKW eine erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Die Bürgerinitiative und ihre Experten, die lange Zeit das AKW für die Leukämiehäufung verantwortlich gemacht hatten, sahen dann einen Unfalls bei militärischen Experimenten als Ursache an. Auf Grundlage der neuen Bodenanalysen gehen sie nun von einem neuen Unfallszenario aus. Offenbar habe man bei der GKSS seinerzeit mit einem Kernbrennstoff experimentiert, der vor allem Thorium und angereichertes Uran enthalten habe, sagte die Bremer Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake. Dabei könne es sich etwa um einen missglückten Versuch im Rahmen der Entwicklung einer neuen Reaktorlinie gehandelt haben. Thorium sei aus der Medizin als Leukämieauslösendes Element bekannt, betonte Schmitz-Feuerhake. Die später erkrankten Kinder seien der Strahlenbelastung zum Teil selbst ausgesetzt gewesen. Bei anderen später erkrankten Kindern seien die Keimzellen von Vätern und Müttern geschädigt worden.

 

Quelle: Jürgen Voges in taz vom 1./2.4.2006

 

 

3) Boden um Geesthacht hochradioaktiv verseucht

Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Leukämiefälle wie in der Elbmarsch / Ursache vermutlich eine vertuschte Atomkatastrophe


Kiel/Hannover. Seit 1990 sind in der Elbmarsch 16 Kinder an Leukämie erkrankt und 4 an Blutkrebs gestorben. Das vierte Todesopfer wurde nicht einmal fünf Jahre alt. Vor dem kleinen Rico (5 Jahre), der im Januar beerdigt wurde, starben Angela (9), Sebastian (11) und Söhnke (21). Nirgendwo auf der Welt gibt es eine solche Häufung von Leukämie-Erkrankungen wie in diesem nur wenige Quadratkilometer großen Landstrich zwischen Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Nach Darstellung von Dr. Hajo Dieckmann, des Leiters des Gesundheitsamtes Lüneburg, seien innerhalb von nur fünf Jahren allein in der kleinen Gemeinde Tespe sechs Leukämie-Erkrankungen erkannt worden. Dort hätte sich rein statistisch nur alle 58 Jahre ein einziger Erkrankungsfall ergeben dürfen.

Die Landesregierungen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein hatten 1992 Kommissionen mit international anerkannten Wissenschaftlern eingesetzt, um die Ursachen und Hintergründe zu beleuchten. Die Kommission hatte binnen 12 Jahren alle anderen erdenklichen Ursachen für Blutkrebs, wie Düngemittel, Pestizide, chemische und andere Umweltgifte untersucht und ausschließen
können. Übrig blieb der Verdacht, daß die Leukämie-Fälle um Geesthacht durch Strahlung ausgelöst wurden, wie ein Kommissionsmitglied, der Strahlenbiologe Prof. Edmund Lengfelder von der Universität München erläuterte.

Am 1. November 2004 kam es zu einem handfesten Eklat: Sechs der acht Mitglieder der Fachkommission "Leukämie" von Schleswig-Holstein legen ihre Arbeit mit der Begründung nieder, ihre Tätigkeit sei von Behördenvertretern systematisch behindert worden. Das Land Schleswig-Holstein läßt darauf hin die Akten schließen.

Augenscheinlich amtliche Untätigkeit wollten engagierte Menschen vor Ort nicht hinnehmen. Auf Initiative und Kosten der "Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch" und der Internationalen Ärzteorganisation gegen den Atomkrieg (IPPNW) wurden Ende des Jahres 2004 erneut verschiedene Erdproben im Bereich der Atomanlagen in Krümmel und Geesthacht entnommen.

Die Proben wurden an der Minsker Sacharow-Universität von einem international renommierten Experten der Plutoniumverortung analysiert. Prof. Mironov kommt zum Resultat, daß die gefundenen erhöhten Plutonium- und Thoriumwerte so in der Natur nicht vorkommen, sondern künstlich hergestellt sind.

Die neuen Untersuchungsergebnisse sind schockierend, widerlegen sie doch offizielle Untersuchungsergebnisse. Sie belegen nach Aussage der Ärzteorganisation, daß im Umkreis des Kernkraftwerkes Krümmel und des Kernforschungszentrums GKSS in Geesthacht, eines Institutes, das einen atomaren Forschungsreaktor betreibt, der Boden an bestimmten Stellen radioaktiv verseucht ist. Die Region weise eine deutlich erhöhte künstliche Radioaktivität auf, darunter erhebliche Konzentrationen von Plutonium und
Thorium.

Die Untersuchungsergebnisse erhärten den Verdacht von Ärzten, daß sich am Freitag, 12. September 1986, nur 30 Kilometer von Hamburg entfernt, ein bisher vertuschter Störfall ereignet und Radioaktivität freigesetzt habe.

Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der "Gesellschaft für Strahlenschutz", verweist auf Augenzeugenberichte vom Herbst 1986, nach denen es auf dem "Hochufer", wo die Kernforschungsanlage GKSS steht, einen großen Brand gegeben hat. Auskünfte zu einem solchen Brand rückt die Feuerwehr in Geesthacht nicht heraus. Alle Einsatzprotokolle von September 1986 seien bei einem Brand ausgerechnet "im Aktenschrank der Feuerwache" vernichtet worden.

Der niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete Uwe Harden vermutet als Grund der amtlichen Vertuschung, daß 1986 direkt nach Tschernobyl die Atomindustrie sofort still gelegt worden wäre und die friedliche Nutzung der Kernenergie erledigt gewesen wäre.

Die Kommission hat binnen 12 Jahren alle anderen erdenklichen Ursachen für Blutkrebs, wie Düngemittel, Pestizide, chemische und andere Umweltgifte untersucht und ausschließen können. Übrig bleibe der Verdacht, daß die Leukämie-Fälle um Geesthacht durch Strahlung ausgelöst werden, erläuterte der Strahlenbiologe Prof. Edmund Lengfelder von der Universität München.

Der Kieler Toxikologe Prof. Otmar Wassermann, der ehemalige Vorsitzende der Leukämiekommission Schleswig-Holsteins, will, daß "das Sterben endlich aufhört" und versteht die neuen Resultate als unmissverständliche Aufforderung an die neue Regierung, endlich aufzuklären, wie diese künstlich erzeugten und hoch radioaktiven Stoffe in den Boden der Elbmarsch gelangt sind und wo exakt Kontaminationen vorliegen.
JOACHIM KELLER

http://www.saar-echo.de/de/art.php?a=31484
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4) Der vertuschte Skandal
ZDF-Film weist auf verschwiegenen Unfall im AKW Krümmel hin
"Und niemand weiß warum - Leukämietod in der Elbmarsch", ZDF, So., 23.30 Uhr.
VON DALAND SEGLER

Es ist ein Skandal, der in Deutschland seinesgleichen sucht - aber er wird
bis heute verdrängt, verschwiegen, geleugnet. Dabei sind die Tatsachen
unübersehbar: In der Umgebung des Atomkraftwerks Krümmel an der Unterelbe
sind zwischen 1991 und 1996 sechs Kinder an Leukämie gestorben - eine
weltweit einmalige Häufung dieser Krankheit. Inzwischen sind seit 1991 sogar
16 Kinder am tückischen Blutkrebs erkrankt. Das alles soll Zufall sein oder
eine andere, unbekannte Ursache haben - sagen die Verantwortlichen der
Atomanlagen, in den Behörden und Ministerien von Niedersachsen und
Schleswig-Holstein. Dass das alles eine ganz konkrete Ursache hat, einen
Unfall in den Anlagen der "Gesellschaft für Kernenergieverwertung in
Schiffbau und Schiffahrt" (GKSS) nahe Krümmel, das führen Angelika Fell und
Barbara Diekmann nun als Indizienbeweis in ihrem halbstündigen
Dokumentarfilm vor.

"Kein Grund zur Unruhe"

Der Film beginnt etwas gefühlig, mit einem Herz aus roten Rosen auf dem Grab
des mit vier Jahren an Leukämie gestorbenen Rico. Aber im Lauf der knappen
halben Stunde können die Autorinnen immer mehr Tatsachen vorlegen, Zweifel
entkräften und Zeugen zu Aussagen bewegen. Da gibt es 1986 einen Alarm im
Atomkraftwerk Krümmel, erhöhte Radioaktivität wird gemessen, aber
selbstredend meldet der Leiter der Atomanlage, die Bevölkerung habe "keinen
Grund zur Unruhe". Etwas mehr als vier Jahre später treten die ersten
Blutkrebsfälle auf. Die Anwohner vergessen, dass Ruhe die erste
Bürgerpflicht ist und verlangen Aufklärung. Es gibt eine
Untersuchungskommission.

Nach jahrelanger vergeblicher Ursachenforschung löst sich die
Leukämie-Kommission auf. Sechs der acht Wissenschaftler im Gremium legen
ihre Ämter unter Protest nieder. Insbesondere von der Kieler Landesregierung
hätten sie keine Unterstützung erfahren, seien über Jahre auf eine Mauer des
Schweigens und der Ablehnung gestoßen.

Tödlich wirkende Kügelchen

Das geht den Autorinnen zum Teil heute noch so. Sie bekommen bestimmte
Messergebnisse nicht zu sehen, Zeugen wollen unerkannt bleiben. Aber mit dem
öffentlich-rechtlichen Fernsehsender im Rücken gelingt es doch,
Wissenschaftler zu finden, die unabhängig voneinander und von der Industrie
nachweisen können, dass die in näherer Umgebung der Atomanlagen massenhaft
gefundenen winzigen Kügelchen tödliche Wirkung haben können: Sie enthalten
Uran aus Wiederaufbereitungsanlagen. Und schließlich finden sich auch
Augenzeugen des seltsamen blau-grünen "Feuers" bei der GKSS.

Bei aller Vorsicht, bei allen Relativierungen: Der Befund scheint eindeutig.
Hier liegt ein Unfall vor, der nicht sein kann, weil er nicht sein darf. Und
also nach Kräften und von vielen Beteiligten vertuscht wurde. Dabei taten
auch Politiker aus als atomkraft-kritisch geltenden Parteien wie SPD und -
ja!- Grünen mit. Dergleichen lässt die Skepsis von Menschen verständlich
erscheinen, die aus einem Gefühl von Ohnmacht nicht mehr zur Wahl gehen.

Warum sich ein Kartell des Schweigens über Krümmel gebildet hatte, ist
übrigens leicht zu erklären. Kein halbes Jahr zuvor, am 26. April 1986, war
der Reaktor in Tschernobyl explodiert. Das Geständnis eines Unfalls in
Krümmel hätte den Atomenergie-Konzernen das Geschäft vermutlich auf Dauer
verdorben. Stattdessen diskutiert man heute schon wieder über längere
Laufzeiten der Atommeiler.

Frankfurter Rundschau 01.04.2006

http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/medien/?cnt=838228
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