Implizite
Staatsverschuldung
Die Lage der deutschen Staatsfinanzen ist noch weitaus schlimmer als die meisten Bürger ahnen.
Denn der größte Teil der Staatsschuld wird versteckt; in keinem Haushalt, in
keiner Bilanz der Öffentlichen Hand taucht er auf. In Bund, Ländern und Gemeinden weist der Staat nur aus, was er an Krediten aufgenommen
hat, explizite Schulden genannt. Er
verschweigt aber, welche Zahlungsverpflichtungen er darüber hinaus eingegangen ist und was er da alles schon aufgetürmt
hat (implizite Schulden). Sie übersteigen die ausgewiesenen Staatsschulden um ein Vielfaches. Darauf macht
jetzt auch die Stiftung Marktwirtschaft
in Berlin wieder aufmerksam. Ihre im September erschienene Studie
„Brandmelder der Zukunft — Die aktuelle Generationenbilanz“ hat die tatsächlichen Verbindlichkeiten des deutschen
Staates zusammengefaßt.
Zahlungsverpflichtungen
von 7,144
Billionen Euro
Die
Studie kommt für die ausgewiesenen und für die verschwiegenen Schulden zusammen auf ungeheure 7,144 Billionen Euro, errechnet in ihrer Generationenbilanz für das Jahr 2004. Sie nennt diese Gesamtverschuldung, etwas harmlos
klingend, Nachhaltigkeitslücke. Zieht man
die ausgewiesene Staatsschuld von (2004) 1,4 Billionen Euro ab, sind es
5,7 Billionen Euro, die der Staat als seine
Zahlungsverpflichtungen nicht öffentlich macht, also viermal so viel. Bezogen auf die gesamte deutsche Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt
(BIP), das sich 2004 auf 2,207 Billionen Euro belief, beträgt die Gesamtverschuldung 324 Prozent des BIP, ist
also über dreimal so hoch.
In dieser Bilanz geht man davon aus, daß alle heute lebenden und alle zukünftigen
Generationen die heute be stehende Staatsschuld mit
ihren sämtlichen „Nettosteuerzahlungen" abgelten müssen. Der Begriff
Nettosteuerzahlung beschränkt sich aber nicht nur auf Steuern, sondern bezieht
auch verpflichtende Sozialabgaben, Beiträge, Gebühren und ähnliches mit ein.
Diese Zahlungen errechnen sich aus dem Barwert alles dessen, was die Generationen
in ihrem jeweils restlichen Leben an den Staat abführen müssen, und - davon
abgezogen - dem Barwert dessen, was sie vom Staat für ihr restliches Leben
erhalten, zum Beispiel Bildung, öffentliche Güter, Transfers, Renten sowie
Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung. Zwischen beiden Beträgen tut
sich ein dickes Defizit auf. Beide driften immer mehr auseinander, die Lage hat
sich weiter verschlimmert.
Woraus besteht die
verschwiegene („implizite“) Staatsschuld? Sie ergibt sich aus den schwebenden
Ansprüchen der Bürger an den Staat, die entstanden sind und entstehen, wenn es
bei der gegenwärtigen Gesetzeslage bleibt. Sie resultieren aus den
umlagefinanzierten, gesetzlich zwangsweisen und
längst maroden Sozialversicherungen (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung)
sowie den Pensionszahlungen an die Beamten und andere öffentlich Bedienstete.
Dabei sind die Zahlungsverpflichtungen aus der Rentenversicherung noch der
dickste Brocken (134 Prozent des BIP). Er würde sich aber, wie es in der Studie
heißt, auf 46 Prozent verringern, wenn die Rente erst mit 67 Jahren ausgezahlt
und wenn man den Beitragssatz auf die gegenwärtige, noch nicht ausgeschöpfte
Höchstgrenze von 22 Prozent des Arbeitsentgelts erhöhen würde. Dagegen werde
sich die implizite Verschuldung in der Krankenversicherung auf 218 Prozent des
BIP verdreifachen und die in der Pflegeversicherung von 32 auf 64 Prozent
verdoppeln. Insgesamt stiege die staatliche Gesamtverschuldung auf 423 Prozent
des BIP. Wenn nicht alsbald etwas Nachhaltiges dagegen geschieht.
Die Generationenbilanz soll, wie es in der Studie
heißt, als „fiskalischer Brandmelder“ fungieren, der die Hauptbrandherde
aufzeigt, um die Löschzüge gezielt dort einzusetzen. Die Botschaft des
Brandmelders ist großer Alarm: Auf die künftigen Beitrags- und Steuerzahler
kommen gewaltige Lasten zu, verursacht durch ausgabentreibende
Effekte in den Sozialversicherungen, durch zu wenig offiziell Beschäftigte und
durch den Bevölkerungsschwund. Gerade in der Kranken- und Pflegeversicherung ticke
schon bei dem heutigen Leistungskatalog eine Zeitbombe.
Zur gesetzlichen Krankenversicherung liest man: „Allein durch Beitrags- und Steuererhöhungen ist die fiskalische Schieflage
der deutschen Krankenkassen nicht in den Griff zu bekommen. Vielmehr bedarf es einer echten Strukturreform.“
Das fordern Ökonomen und andere Fachleute
seit Jahren, sogar seit Jahrzehnten.
Für das, was die Große Koalition
stattdessen ins Werk setzen will und daran schon zu zerbrechen droht, ist sogar die Bezeichnung „Flickwerk“
noch Schönfärberei. Die Studie selbst untertreibt ebenfalls: Die echte Strukturreform werde „um Längen verfehlt“.
Treffend muß man es eine Katastrophe nennen.
Verdrängte Probleme der Gegenwart und Vergangenheit
Und
im Vorwort zur Studie heißt es: „Je eher Politik und Bürger der Realität ins Auge blicken und die
notwendigen Reformen anpacken bzw.
mittragen, umso leichter fällt das Umsteuern. Wenn eine solche Politik trotz
eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse heute nicht 'vermittelbar' sein sollte,
werden uns die unangenehmen Konsequenzen
bald durch die kommenden Generationen 'vermittelt', denn die ungelösten und verdrängten Probleme der Gegenwart
und Vergangenheit werden uns in Kürze einholen. Eine weitere
Lastverschiebung in die Zukunft ist dann nicht mehr möglich.“
Der Präsident des
Bundes der deutschen Steuerzahler hat das
Problem im Januar 2005 viel plastischer verdeutlicht: Würden die
öffentlichen Haushalte vom Ende 2005 an keine neuen Schulden mehr aufnehmen
und dazu verpflichtet, jeden Monat eine Milliarde Euro Schulden zu tilgen,
würde es gut 122 Jahre dauern, bis der Staat schuldenfrei ist. Damit hat er
aber nur die ausgewiesenen Schulden gemeint, noch
nicht die verschwiegenen. Das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft
in Bonn hat im September 2005 sogar acht bis neun Billionen Euro allein an
impliziter Staatsschuld vorgerechnet. Die mit ihr bestehenden Zahlungsverpflichtungen
sind ungedeckt. Solche Beträge laufen auf einen Staatsbankrott hinaus, denn erfüllen
wird der Staat diese Verpflichtungen nicht können.
Christian Hagist,
Bernd Raffelhüschen, Olaf Weddige: Brandmelder der Zukunft - Die
aktuelle Generationenbilanz, Stiftung
Marktwirtschaft, Berlin 2006, 16 Seiten, 3
Euro. Im Internet unter www.stiftung-marktwirtschaft.de
Quelle:
Klaus Peter Krause in JUNGE FREIHEIT vom 6.10.2006 („Hier tickt eine
Zeitbombe“)