50 Jahre Grundgesetz

 

Ansprache des Justizopfers Reinhard Moldzio - bekannt als "Rainer Moll" aus "Die Rechtsbeugermafia" - am 25. Mai 1999, gesendet im offenen Kanal Lübeck:

 

Gestern hat das Grundgesetz seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Viele Bürger fragen sich, ob das ein Grund zu ungetrübter Freude sein kann. Ich meine, es gibt da sehr viel zu kritisieren. In erster Linie gar nicht einmal gegenüber dem Grundgesetz selbst, sondern an der Verfassungswirklichkeit. Das Grundgesetz ist zwar gut und schön, aber es ist meiner Meinung nach nie richtig und vollständig umgesetzt worden. So sollen wir nach unserer Verfassung eine Demokratie, also eine Volksherrschaft sein. Tatsächlich beschränken sich unsere demokratischen Rechte darauf, in Bund, Land und Kommune alle vier oder fünf Jahre zur Wahl zu gehen. Vor den Wahlen versprechen die Politiker das Blaue vom Himmel. Sind die Volksvertreter dann erst einmal an der Macht, schert sie ihr Geschwätz von gestern nicht mehr.

 

Es ist ein Skandal, daß mehr als die Hälfte der Parlamentarier aus dem öffentlichen Dienst kommen. Die Bevölkerung wird dadurch nicht richtig repräsentiert. Außerdem bedeutet dies eine hochproblematische Durchbrechung der Gewaltenteilung. Und letztlich blähen die Staatsdiener in eigener Sache die Bürokratie auf unter gleichzeitiger Selbstbedienung an öffentlichen Mitteln.

 

Jeder vernünftige Bürger fordert die Einführung von Volksentscheiden auf Bundes‑ und Landesebene, selbst Herr Stoiber aus München. Die Parlamentarier unternehmen aber nichts, weil viele "sich dem Druck der Straße nicht beugen wollen". Welche Arroganz und welche elitäre antidemokratische Gesinnung dahinter steht, ist offenkundig.

 

Dann sollen wir nach dem Grundgesetz ein Sozialstaat sein. Kann ein Gemeinwesen, daß jahrelang über vier Millionen Arbeitslose tatenlos zuläßt, sozial genannt werden? Ich glaube nicht! Auch ist es eine freche Lüge der Kapitalisten, der Sozialstaat sei unbezahlbar geworden. Wenn Helmut Kohl die Sozialkassen nicht für die Wiedervereinigung geplündert hätte und wenn viele Verlustrisiken der Privatwirtschaft nicht länger sozialisiert würden, bliebe der Sozialstaat in der bisherigen Ausgestaltung ohne weiteres finanzierbar. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, daß während der CDU‑Regierung der Karren bewußt gegen die Mauer gefahren werden sollte, um den Sozialstaat im Interesse der Wirtschaftsbosse umzubauen, was übrigens nur eine heuchlerische Umschreibung für "Demontage" ist.

 

Und ein Rechtsstaat, wie es das Grundgesetz vorschreibt, sind wir am allerwenigsten. Das kann ich aus eigener jahrelanger leidvoller Erfahrung bestätigen.

 

Wir konnten auch kein Rechtsstaat werden, weil das Dritte Reich der Nazis illegal in der Justiz fortbestand. Es wäre besser gewesen, wenn die alliierten Siegermächte eine Kolonialjustiz der Besatzer eingerichtet hätten, bis eine neue charakterlich unverbogene Generation von Richtern und Staatsanwälten herangebildet worden wäre. Nach dem offenkundigen Terror am Volksgerichtshof, an den Sondergerichten und vielen anderen Strafgerichten ist es unbegreiflich, daß diese Schlächter wieder die Robe anziehen durften. Auch handelte es sich nicht um Einzelfälle; die Renazifizierung der Justiz war flächendeckend. Nach dem Krieg hatten zum Beispiel in Westfahlen dreiundneunzig Prozent des Justizpersonals das NSDAP‑Parteibuch besessen. In Bayern waren es einundachtzig Prozent und im Bezirk des Oberlandesgerichts Bamberg sogar achtundneunzig Prozent.

 

Unter der Geltung des Grundgesetzes sorgte der Deutsche Bundestag dafür, daß fast alle NS‑Beamten einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung erhielten und damit faktisch die Mitgliedschaft in der Nazipartei zur Einstellungsvoraussetzung: des öffentlichen Dienstes wurde.

 

Konrad Adenauer, der sich mit seiner eigenen Stimme zum ersten Bundeskanzler gewählt hatte, überließ schwerbelasteten Altnazis wie Globke, Oberländer und Vialon hohe und wichtige Posten in der Bonner Ministerialbürokratie. Obwohl die kriminellen Taten vieler Nazijuristen mit jedem Horrorfilm konkurrieren konnten, wurde kein einziger dafür rechtskräftig verurteilt. Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Eine Krähe hackt eben der anderen kein Auge aus, auch wenn es sich um einen Massenmörder handelt. Das Blut zigtausender Justizopfer schreit noch heute ungesühnt zum Himmel.

 

Diese "furchtbaren Juristen" gibt es allerdings auch noch in den nachgewachsenen Juristengenerationen. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Martin Hirsch hat es auf den Punkt gebracht:

 

"Juristen sind zu allem fähig!"

 

Trotz der Gnade der späten Geburt haben sich die nachfolgenden Juristengenerationen weitgehend mit den selben Giften verkrüppeln lassen, die die grausame Nazijustiz ermöglicht hatten.

 

Noch heute ist es unter Richtern und Staatsanwälten ungeschriebenes verfassungswidriges Gewohnheitsrecht, die Standesrücksichtnahmen und Kollegialinteressen höher zu bewerten als den auf das Grundgesetz abgelegten Diensteid. Häufig bedeutet dies die Bestätigung einer offenkundigen Fehlentscheidung durch das Rechtsmittelgericht oder eine Strafvereitelung im Amt. Kumpanei und Korpsgeist ist diesen Herren also viel zu oft wichtiger als die verfassungsmäßige Ordnung.

 

Eine der eindrucksvollsten Verhöhnungen unseres Grundgesetzes erfolgte dann durch den Radikalen‑Erlaß. Kritische Geister wurden wegen konsequenter Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten vom öffentlichen Dienst ferngehalten und zwar unter anderem von Richtern, die aus der Nazizeit soviel Dreck am Stecken hatten, daß man sie mit guten Gründen zu langjährigen Freiheitsstrafen hätte verurteilen sollen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat diesen Skandal abgesegnet und es hat dann ein Jahrzehnt gedauert, bis der Europäische Gerichtshof diesen Schwachsinn für rechtswidrig erklärt hat. Allerdings waren in der Zwischenzeit unzählige Biographien durch diese illegalen Berufsverbote irreparabel geschädigt worden. Worte des Bedauerns findet die chronisch selbstgewisse Herrenreitertruppe der Richter in solchen Fällen nie und nimmer. Immerhin hatte jedenfalls und wieder einmal Willy Brandt die menschliche Größe, öffentlich seinen Beitrag am Zustandekommen des Radikalenerlasses als den größten Fehler seiner politischen Laufbahn zu bezeichnen.

 

Das Inhumane unseres angeblichen Rechtsstaates habe ich bis an die Grenze psychischer Vernichtung am eigenen Leibe erlebt und das immerhin nur fünfundvierzig Jahre nach dem angeblichen Ende des größten Verbrechersystems unter Gottes Sonne:


 

Seit 1957 war ich für das damalige Fernmeldeamt Lübeck tätig. Ich wurde bis zum technischen Hauptsekretär befördert. Bis 1980 wurde ich von der Mehrheit meiner Kollegen einem fürchterlichen Mobbing unterzogen. Von 1980 bis zu meiner Pensionierung Ende 1985 war ich aus psychosomatischen Gründen dienstunfähig und überwiegend in Klinikbehandlung.

 

Am 10. Mai 1990 erfolgte wie der Blitz aus heiterem Himmel eine Durchsuchung meiner Wohnung. Ein Staatsanwalt, zwei Kripobeamte und fünf Postbeamte stürmten das Treppenhaus. Ohne zu klingeln wurde meine Wohnungstür aufgetreten, die ich einen Spalt geöffnet hatte. Die acht Leute stürmten meine Wohnung wie ein Gestapo-Kommando. Ich dachte, ich sei das Opfer eines Raubüberfalls. Offenbar durch eine Intrige wurde ich beschuldigt, einen Computerbetrug begangen zu haben. Nach wenigen Minuten verließ der Staatsanwalt die Wohnung und die beiden Herren von der Kripo ließen die Postbeamten wüten, bis ich mit einem Nervenzusammenbruch am Boden lag. Der Staatsanwalt Uwe Wendt, der kurzfristig nach dieser Affäre zum Oberstaatsanwalt befördert wurde, ließ mir einen Strafbefehl über viertausend Mark schicken, obwohl ich total unschuldig war. Bei meinen ersten beiden Anwälten hatte ich das Gefühl, sie würden mehr für die Staatsanwaltschaft als für mich arbeiten. Danach hat ein halbes Dutzend weiterer Anwälte mit den abenteuerlichsten Ausflüchten meine Vertretung abgelehnt, bis ich einen Rechtsanwalt fand, der nach Durchsicht der Akten immerhin dreiundzwanzig Rechtsbrüche beziehungsweise unvertretbare Fehlentscheidungen festgestellt hat.

 

Dann rief mich Herr Heinrich Wille, der heutige Chef der Staatsanwaltschaft Lübeck, an, der damals noch im Justizministerium arbeitete und erklärte mir hinter dem Rücken meines Anwalts, das Verfahren werde eingestellt, wenn ich ein klein wenig zugeben würde. Obwohl ich unschuldig war, ging die Justiz weiter von meiner Schuld aus. Danach habe ich jahrelang vergeblich meine Rehabilitierung betrieben. Die sozialdemokratische Landesregierung hat alle Rechtsbrüche der Lübecker Justiz gedeckt.

 

Dann wollte ich als letzten Ausweg eine Menschenrechtsbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof einreichen. Ein angeblich darauf spezialisierter Anwalt aus München wollte dafür viertausendsechshundert Mark Vorschuß haben. Mein Lübecker Rechtsanwalt sah dafür aus formalen Gründen der Fristversäumung keinerlei Erfolgsaussicht mehr und riet mir dazu, diesen Skandal zu veröffentlichen. Einen Skandal, mit dem die örtliche Justiz den kleinen Rest meiner Lebensfreunde auch noch zerstören wollte, der mir nach den Schweinereien durch meine Kollegen vom Fernmeldeamt verblieben war.

 

Daraus ist dann in jahrelanger Arbeit das Buch "Die Rechtsbeugermafia" geworden, das in den nächsten Monaten erscheinen wird. Das Buch wird einen Umfang von über sechshundert Seiten haben und enthält einundfünfzig Kapitel aus zwanzigjähriger Berufstätigkeit meines Rechtsbeistandes.

 

Seit dieser Zeit, also seit 1990, bekämpfe ich die Mißstände in der Justiz. Dies geschieht überwiegend durch die Verteilung von Flugschriften und die Teilnahme an Veranstaltungen mit einschlägigen Themen. Auch wenn man dabei häufig das Gefühl bekommt, gegen eine Gummiwand zu rennen, gibt es auch immer wieder Erfolgserlebnisse. Besonders aufgefallen ist mir dabei die Verkommenheit der oberen Zehntausend und die Grundanständigkeit großer Teile der in einfacher Position arbeitenden Bevölkerung. Ein wesentlicher Faktor in dieser Herrschaftsclique sind die "Lübecker Nachrichten", unser ständig mißbrauchtes regionales Pressemonopol. Die Berichterstattung ist in aller Regel tendenziös, manipulativ und oft auch noch inhaltlich falsch. Hanseatische Traditionen gelten dort nichts. Mehrfach wurden Zusagen, von mir verfaßte Leserbriefe zu veröffentlichen, nicht eingehalten. Dagegen findet man Rotarier und andere Clubmitglieder tagtäglich großformatig abgebildet oder in nützlichen Artikeln hochgejubelt. Aus persönlicher Erfahrung halte ich einige Rotarier für schlimme sozialschädliche Leute. Kürzlich habe ich einen Schmerzensgeldprozeß durch zwei Instanzen verloren. Ein Zahnarzt hatte eine Behandlung unterbrochen und ein spitzes Metallteil im Mund zurückgelassen. Meine Wange wurde dadurch aufgerissen. In der Berufungsverhandlung erklärte der Vizepräsident des Landgerichts Doktor Horst Greb, man werde mir ein Schmerzensgeld zusprechen. Als ich das schriftliche Urteil erhielt, fiel ich aus allen Wolken. Meine Klage wurde doch abgewiesen. Der Rechtsanwalt und der Vater des beklagten Zahnarztes sind beide Rotarier!


 

Durch meine Auseinandersetzungen mit der Justiz habe ich festgestellt, daß die von mir erlittenen Rechtsbrüche keine Einzelfälle darstellen. Auch wenn die Justiz alles totzuschweigen versucht, gelingt es ihr nicht immer. Das kritische Bewußtsein in der Bevölkerung hat insbesondere seit der Studentenrevolte von 1968 maßgeblich zugenommen. Zwischenzeitlich habe ich eine Vielzahl von gleichartigen Justizskandalen in Erfahrung gebracht. Dahinter stecken also keinesfalls einmalige Ausreißer, sondern ein flächendeckendes System verfassungswidriger Willkür. Das hat insbesondere drei Gründe:

 

Erstens handelt die heutige Justiz aus dem gleichen gebrochenen Rückgrat heraus, welches die grausame Sondergerichtsbarkeit unter Hitler ermöglichte.

 

Zweitens gibt es kein oder nur ein sehr verkümmertes Berufsethos, daß dann auch noch die Interessen des eigenen Berufsstandes ganz oben ansiedelt und nicht rechtsstaatliche Prinzipien oder die Interessen der Rechtsuchenden.

 

Und drittens fehlt es an einer wirksamen Kontrolle. Die Justiz hat sich ‑ wie die Reichswehr in der Weimarer Republik ‑ zu einem Staat im Staate fehlentwickelt, der autonom vor sich hin wurstelt. Die Gewaltenteilung wurde insoweit aufgelöst. Die Justizverwaltungen wurden von Richtern unterwandert. Den Rest besorgte eine unerträgliche Rechtsprechung der Dienstgerichte in eigener Sache. Danach ist die richterliche Unabhängigkeit, die im Interesse der Bürger bestimmt wurde, zu einem Standesprivileg im Sinne von Narrenfreiheit verkommen.

 

Um die katastrophalen Zustände in der schleswig‑holsteinischen Justiz zu verdeutlichen, habe ich einige Beispiele zusammengetragen:

 

Die Heyde/Sawade‑Affäre ist der jungen Generation heute kaum noch bekannt. Professor Heyde wurde durch Steckbrief und Haftbefehl wegen Mordes in etwa einhunderttausend Fällen gesucht. Nach seiner Ergreifung konnte er entfliehen und sich in das immer noch tiefbraune Schleswig-­Holstein absetzen. Dort nannte er sich Doktor Sawade. Fast einhundert hochgestellte Persönlichkeiten kannten seine Identität, ohne ihn hochgehen zu lassen. Zu diesen Personen gehörten Staatsanwälte und Richter bis hinauf zum Chefpräsidenten des Landessozialgerichtes. Sawade wurde nicht nur gedeckt, er wurde auch mit einigen Tausend Gutachtenaufträgen geradezu fürstlich unterstützt. Als die Sache aufflog, wurde der Skandal noch deftiger. Keiner der Mitwisser und Begünstiger wurde je belangt. Teilweise wurden die Akten schlicht bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung unbearbeitet liegengelassen.

 

Ich komme zum nächsten Beispiel:

 

Der ehemalige SPD‑Landtagsabgeordnete Hans‑Jürgen Wolter, der es sogar bis zum Mitglied im Richterwahlausschuß gebracht hatte, wurde wegen eines Verbrechens gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz nicht bestraft. Er wollte Waffenschiebereien in einem dreistelligen Millionenbetrag vermitteln und zwar offenbar ohne die erforderliche Waffenhändler‑Lizenz zu besitzen. Daß Wolter auch noch seine minderjährigen Mandanten sexuell mißbraucht hat, wurde zwar strafrechtlich geahndet; ich frage mich jedoch, warum Wolter bis heute nicht seine Anwaltszulassung eingebüßt hat.

 

Der folgende Skandal betrifft unser Pressemonopol:

 

Eine noch dem Jugendstrafrecht unterfallende türkische Staatsbürgerin, die in einem Kaufhaus eine Flasche Parfüm im Werte von etwa fünfzehn Mark entwendet haben soll, wird angeklagt und vor den Strafrichter zitiert. Der Geschäftsführer und Mitgesellschafter der "Lübecker Nachrichten" GmbH kann dagegen einhundertsiebzigtausend Mark Spendengelder veruntreuen, die für die Ärmsten der Armen bestimmt waren und das Verfahren wird eingestellt. Das ist aber noch nicht alles. Der Justizminister Gerd Walter, der bei seinem Amtsantritt herumposaunt hat, er wolle eine gerade Furche ziehen, wird um Überprüfung dieser Ungeheuerlichkeit gebeten. Er tut dies und kann keinen Ermessensfehler der Staatsanwaltschaft Lübeck feststellen. Da geht einem ganz einfach das Messer in der Tasche auf

 

Weiterhin wird der LN‑Geschäftsführer Doktor Semmerow von einem Verleger aus Kiel des Betruges in Millionenhöhe beschuldigt. Mein Rechtsbeistand hat die Ermittlungsakte eingesehen und festgestellt, die Sache sei eindeutig und wasserdicht. Der schon für das erste Ermittlungsverfahren zuständige Staatsanwalt, der zwischenzeitlich zum Oberstaatsanwalt befördert wurde, setzt zwar eine erneute Durchsuchung durch und wird auch fündig. Das Verfahren wird gleichwohl eingestellt, nachdem der Justizminister Walter unmittelbar mit dem Oberstaatsanwalt telefoniert hat. Der Generalstaatsanwalt hat diesen Skandal gedeckt. Der Verleger aus Kiel glaubt nun auch nicht mehr an die Gerechtigkeit. Er hofft, daß Volker Rühe Frau Simonis und Herrn Walter ablöst, damit wir erneut eine Chance zum Neuanfang in der Justiz bekommen.

 

Schon Altbundeskanzler Helmut Schmidt bekannte freimütig, eine Regierung begehe politischen Selbstmord, wenn sie sich mit dem Springer‑Verlag anlege.

 

Nicht nur Lübeck ist betroffen:

 

Das gesamte Sündenregister des Rechtsanwalts und Notars Jürgen Hofmann aus Mölln soll hier gar nicht ausgebreitet werden. Dieses ist ja zumindest zwei Lübecker Staatsanwälten in allen Einzelheiten bekannt. Vor einigen Jahren wurde Hofmann beziehungsweise zwei seiner engsten Freunde Brandstiftung, Versicherungsbetrug und Vergewaltigung vorgeworfen. Die Verfahren wurden insgesamt eingestellt. Als die vierte Zivilkammer des Landgerichts Lübeck ein Ermittlungsverfahren wegen Untreue hatte einleiten lassen, wurde ein richterlicher Durchsuchungsbeschluß zwei Monate lang nicht vollstreckt. Als dann die Kripo doch noch vor der Tür stand, sagte Hofmann es sei nichts mehr da; er sei rechtzeitig von der Staatsanwaltschaft gewarnt worden. Das hat die Kripo in der Akte vermerkt. Über ein Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung im Amt ist nichts bekannt geworden.

 

Rechtsanwalt Steingröver, Hofmanns ehemaliger Sozius, wurde später wegen Untreue beziehungsweise Unterschlagung angeklagt und vom Amtsgericht Mölln zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Allerdings ergab die Beweisaufnahme, daß der eigentliche Täter Rechtsanwalt Hofmann gewesen sein dürfte, weil er die Buchhalterin angewiesen hatte, Fremdgeld noch nicht auszuzahlen. Pikanterweise handelte es sich um beigetriebenen Unterhalt, der einer krebskranken Mandantin zustand. Hofmann soll allerdings früher einmal Landesvorsitzender der Jungen Union gewesen sein. Das erklärt dann ja auch gewisse Verhaltensmuster, wie wir sie unter anderem in dem Nachlaß des Herrn Doktor Barschel gefunden haben.

 

Dann muß ich noch eine Geschichte aus Mölln erzählen:

 

Nach der Wende wurde Rechtsanwalt Steingröver zum Verwalter für eine Molkereigenossenschaft in Mecklenburg bestellt. Seine Vergütung wurde vom zuständigen Gericht mit knapp dreißigtausend Mark festgesetzt. Tatsächlich ließ er sich aber vierhundertfünfzigtausend Mark mehr auszahlen. Vom Landgericht Lübeck und vom Oberlandesgericht Schleswig wurde er zur Rückzahlung verurteilt. Steingröver wurde wegen Gebührenübererhebung angezeigt. Staatsanwalt Doktor Böckenhauer, der zur Zeit für den Justizminister persönlich arbeiten darf, hat das Verfahren eingestellt. Auf Beschwerde hat der Generalstaatsanwalt festgestellt, daß der Straftatbestand der Gebührenübererhebung selbstverständlich gegeben sei. Allerdings könne nun nichts mehr gemacht werden, da zwischenzeitlich Verfolgungsverjährung eingetreten sei.

 

Wegen jeder Straftat für sich genommen hätte Steingröver nach Gesetz und ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes die Rechtsanwaltszulassung verlieren müssen. Die Ehrengerichte beziehungsweise die Anwaltsgerichte haben aus unerfindlichen Gründen davon abgesehen, was wiederum den dringenden Verdacht der Rechtsbeugung und Strafvereitelung begründet.

 

Ein weiteres Stück aus dem Tollhaus ereignete sich kürzlich in Lübeck. Es war ein Schlag ins Gesicht der liberalen Drogenpolitik der Sozialministerin:

 

Eine ehrenamtlich im Bereich der Drogenhilfe und Resozialisierung tätige Sozialarbeiterin hat einige harmlose Hanfpflanzen in ihrem Schrebergarten. Rechtsanwalt Hans‑Jürgen Wolter ist Vorsitzender eines Konkurrenzunternehmens und fordert ständig, die Sozialarbeiterin solle sich unterwerfen. Wegen dieser läppischen Hanfpflanzen erhebt Oberstaatsanwalt Tamagotschi Anklage wegen eines Verbrechens nach dem Betäubungsmittelgesetz. Die Amtsrichterin Inge Böttcher verurteilt tatsächlich zu existenzvernichtenden fünfzehntausend Mark Geldstrafe. Erst in der Berufungsinstanz erfolgt eine erhebliche Abmilderung. Selbstverständlich lag allein schon aus subjektiven Gründen kein Verbrechenstatbestand vor. Es hätte nicht viel gefehlt und das Landgericht hätte das Verfahren eingestellt. Aber diese Blamage wollte man der Amtsrichterin dann wohl doch ersparen.

 

Auf der anderen Seite läßt Oberstaatsanwalt Tamagotschi hochkriminelle Korruptionsverfahren so lange liegen, bis Verfolgungsverjährung eingetreten ist.

 

Mein letztes und am meisten bedrückendes Beispiel betrifft die Tragödie um die "Cap Arcona". Im Mai 1945 sind dabei in der Neustädter Bucht über achttausend Menschen jämmerlich umgekommen. Etwa zweihundert bis dreihundert KZ‑Häftlingen gelang es, von gestrandeten Schuten an Land zu gelangen. Diese halbverhungerten Opfer der Nazidiktatur wurden von SS-­Leuten und Marinesoldaten ermordet. Dieses Massaker war schon 1945 in Lübeck und Ostholstein allgemein bekannt. Trotzdem sollen staatsanwaltliche Ermittlungen erst Anfang der achtziger Jahre eingeleitet worden sein. Bereits vor etwa fünfzehn Jahren hat ein Zeuge der Staatsanwaltschaft Lübeck seine Kenntnisse über den Namen und den Dienstgrad des Marineoffiziers mitgeteilt, der für den hundertfachen Mord verantwortlich gewesen sein soll. Es geschah offenbar nichts. Der Beschuldigte soll als Admiral der Bundesmarine in den Ruhestand getreten sein. Tatsächlich befanden sich immer schon umfassende Protokolle über die Morde und die Täter in einem Archiv in London. Daran hat die Staatsanwaltschaft Lübeck offenbar immer wieder haarscharf vorbei ermittelt. Der schleswig‑holsteinischen Justiz sollen Abschriften dieser Protokolle schon vor Jahrzehnten vorgelegen haben. Irgend so eine braune Socke muß sie durch den Reißwolf gejagt haben. Besonders beschämend ist der Umstand, daß seinerzeit sehr viele Sozialdemokraten umgekommen sind, die die Nazis wegen ihrer politischen Überzeugung in das KZ gesteckt hatten, während sich heute offenbar Staatsanwälte mit SPD‑Parteibuch vor den Karren einer Vertuschung zu Gunsten von Nazikollegen spannen lassen.

 

Diese Schilderungen ließen sich noch stundenlang fortsetzen, wenn meine Sendezeit nicht beschränkt wäre. Jedenfalls hoffe ich, durch diese Beispiele nachgewiesen zu haben, daß das Grundgesetz auf einer Wolke weit über uns schwebt und in der konkreten Gestaltung unserer Gesellschaft einfach nicht ernst genug genommen wird; insbesondere nicht von den Leuten, die an sich von Berufs wegen Hüter der Verfassung sein sollten.

 

In den vergangenen fünfzig Jahren ist das Grundgesetz insgesamt sechsundvierzig Mal geändert worden. Einige grundlegende Ergänzungen waren äußerst umstritten und hätten kaum der Überprüfung durch eine Volksabstimmung standgehalten. Dies gilt insbesondere für die Wehrverfassung, die Notstandsgesetze, die Anpassung an den Vertag von Maastricht und die halbherzige Neuregelung des Asylrechts.

 

Dann ereignete sich das Wunder von 1989. In der DDR wurde die Riege der Betonköpfe im Politbüro durch friedliche Montagsdemonstrationen hinweggefegt, ohne das ein Tropfen Blut vergossen worden wäre. Es bot sich die einmalige Chance, das Grundgesetz auf den neuesten Stand zu bringen, den Gegebenheiten der Wiedervereinigung anzupassen und eine umfassende demokratische Legitimierung herbeizuführen. Diese Chance wurde durch eine sogenannte Verfassungsbeerdigungs‑Kommission unter Leitung des Rotariers Rupert Scholz verpasst. Schon bevor Scholz dieses Amt antrat, hatte er vor den Arbeitgeberverbänden gewarnt, der Ökologie in der Verfassung Vorrang vor anderen Werten einzuräumen. Auch wollte er keine "Verheißungen" wie dem Recht auf Arbeit in dem Grundgesetz lesen, weil eine Politik der Vollbeschäftigung die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht bringen würde. Alle vernünftigen Fortschreibungen des Grundgesetzes hat die Kommission durch ihre konservativen Mitglieder abbügeln lassen. Dabei ging es unter anderem um die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, Achtung der Identität von Minderheiten, Schutz vor der datenverarbeitenden Bürokratie, Tierschutz, das Recht auf Wohnen und das Recht auf Arbeit.

 

Vielleicht sind wir bald auch in der neuen Bundesrepublik reif für Montagsdemonstrationen! Der scheidende Bundespräsident Roman Herzog hat es richtig erkannt. Durch unsere Gesellschaft muß ein Ruck gehen. Diesen Appell hat er an das Volk und nicht an Regierung und Parteien gerichtet, weil er denen wohl auch nicht mehr viel zutraut.