Entmündigung

 

Die EU entmachtet die Volksvertreter und entmündigt das Volk

 

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog sieht die parlamentarische Demokratie ernsthaft bedroht und schlägt Alarm. Immer mehr Entscheidungen deutscher Politik werden in Brüssel vorbestimmt. Der Wähler, laut Grundgesetz der höchste Souverän, wird entmündigt und die Volksvertretungen werden entmachtet.

 

In der »Welt« vom 21.1.2007 und der »Welt am Sonntag« ließ Alt­bundespräsident Roman Herzog seine Beurteilung der Europäi­schen Union veröffentlichen, die man nur als blanke Verurteilung bewerten kann und die mögli­cherweise historische Bedeutung erlangen kann.

Die Politik der Europäischen Uni­on leide in besorgniserregender Weise unter einem Demokratie­defizit und einer faktischen Auf­hebung der Gewaltenteilung, stel­len Herzog und der Direktor des Centrums für Europäische Politik (CEP), Lüder Gerken, in dieser Abrechnung mit den Fehlentwick­lungen der EU fest.

Der Bundestag sei in die EU-Ge­setzgebung nicht so eingebun­den, wie es das Grundgesetz verlange. Viele Bundestagsab­geordnete seien über diese Ent­wicklung ebenfalls beunruhigt, scheuten aber davor zurück, dies öffentlich zu äußern.

Hier einige Auszüge:

»Die Menschen sind verunsichert, und sie sind zunehmend zurück­haltend und skeptisch gegenüber der EU, weil sie den Integrations­prozeß nicht mehr durchschauen, weil sie das Gefühl einer immer stärkeren, oft sachwidrigen Zen­tralisierung von Zuständigkeiten beschleicht, und weil sie nicht erkennen können, wer für welche Politik verantwortlich ist.

Die europäische und Teile der deutschen Politik wünschen, daß der Verfassungsvertrag für die EU trotz seines Scheiterns in Frank­reich und den Niederlanden doch noch in Kraft gesetzt wird. Insbesondere wollen sie denjenigen Teil retten, der die Befugnisse der Organe und das Gesetzgebungsverfahren der EU neu regelt. Aber gerade da liegen entscheidende Probleme und Schwächen. (...)

In der Tat sind wir einer immer weiteren, oft sachwidrigen Zen­tralisierung von Kompetenzen weg von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union ausge­setzt. Das Bundesjustizministe­rium hat für die Jahre 1998 bis 2004 die Zahl der Rechtsakte der Bundesrepublik Deutschland und die Zahl der Rechtsakte der EU einander gegenübergestellt. Er­gebnis: 84 Prozent stammen aus Brüssel, nur 16 Prozent originär aus Berlin. (...)

Ein Beispiel sind die massiven Eingriffe in das materielle Arbeits­recht durch die Diskriminierungsgesetzgebung der EU, obwohl die inhaltliche Ausgestaltung des Arbeitsrechts in die Zustän­digkeit der Mitgliedstaaten fällt. Die Binnenmarktgesetzgebung. die Umweltrichtlinie „Fauna-Flora-Habitat“ und das Diskriminie­rungsrecht, um einige Beispiele zu nennen, sind europäische Rechtsakte, welche die deutsche Rechts- und Gesellschaftsord­nung grundlegend verändert ha­ben und nachhaltig prägen. (...)

Die Zahlen des Bundesjustizmi­nisteriums verdeutlichen es: Über den weitaus größten Teil der in Deutschland geltenden Gesetze beschließt im Ministerrat die Bun­desregierung, nicht der Deutsche Bundestag. Und jede Richtlinie, die die Bundesregierung im Mi­nisterrat verabschiedet muß der Bundestag in deutsches Recht umsetzen.

Das Grundgesetz sieht jedoch den Bundestag als zentralen Akteur der Gestaltung des poli­tischen Gemeinwesens vor. Es stellt sich daher die Frage, ob man die Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demo­kratie bezeichnen kann, denn die Gewaltenteilung als grundlegen­des, konstituierendes Prinzip der verfassungsmäßigen Ordnung Deutschlands ist für große Teile der für uns geltenden Gesetzge­bung aufgehoben.«

 

Quelle: UNABHÄNGIGE NACHRICHTEN 3 / 2007 / 3