Bundespräsidenten

Bonn, den 14. September 1999

Gemeinsame Erklärung

von Bundespräsident Johannes Rau

und den drei ehemaligen Bundespräsidenten

Roman Herzog, Richard von Weizsäcker, Walter Scheel

anlässlich der 50. Wiederkehr der Wahl des ersten Bundespräsidenten am 12. September 1949

I.

Am 12. September 1999 jährt sich zum fünfzigsten Male der Tag, an dem Theodor Heuss, im Jahr der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde.

Aus diesem Anlass möchten wir an die Anfänge unserer Demokratie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur erinnern und an die bleibenden Verdienste, die sich Theodor Heuss während seiner zehnjährigen Amtszeit bei der Begründung unserer Demokratie als Staats- und als Lebensform erworben hat.

Angesichts der neuen demokratiepolitischen Herausforderungen, vor denen wir in Deutschland und Europa stehen, haben zwei seiner Maximen, die er vor und nach seiner Wahl am 12. September 1949 beschworen und die er zeit seines Lebens befolgt hat, heute noch und heute wieder aktuelle Gültigkeit.

Einmal ist es die mahnende Besorgnis:

"Wenn unsere Verfassung nicht im Bewußtsein und in der Freude des Volkes lebendig ist, bleibt sie eine Geschichte von Machtkämpfen der Parteien, die wohl nötig sind, aber nicht ihren Sinn erfüllen...."

zum anderen die Meinung, dass

"Demokratie keine Glücksversicherung ist, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung":

II.

Vor diesen beiden grundlegenden Sätzen seines demokratischen Credos muss sich unsere Verfassungswirklichkeit einigen besorgten Nachfragen stellen:

  1. Wie ist es heute um die politische Bildung und die demokratische Gesinnung in unserem Lande bestellt? Bemühen wir uns ausreichend darum, dass junge Menschen die demokratische Lebensform lernen können, damit Erfahrung und Bewährung möglich werden?
  2. Ist unsere Verfassung "im Bewusstsein und in der Freude des" - nun wiedervereinten - "Volkes lebendig", und ist es nach der glücklichen Vereinigung des 40 Jahre geteilten deutschen Volkes ausreichend gelungen, unsere geschriebene und gelebte Verfassung zur Verfassung aller Deutschen werden zu lassen? Wie kann bisher Versäumtes nachgeholt werden?
  3. Sind wir und bewusst, dass unsere repräsentative Demokratie im Zeitalter globaler Veränderungen mehr denn je des Engagements der Bürger und ihrer Mitwirkung und Teilhabe an politischen Aufgaben bedarf?
  4. Haben unsere Parteien und gesellschaftlichen Institutionen schon ausreichend erkannt, dass aus diesem Grund jeder am Gemeinwohl orientierte Einsatz in sozialen, humanitären, kulturellen und ökologischen Feldern ermutigt und gefördert werden sollte?
  5. Sind sich unsere Parteien - über die nötige politische Konkurrenz hinaus - ihrer Mitverantwortung für die Entfaltung demokratischer Lebensformen und Gesinnungen ausreichend bewusst und geben sie selber genügend glaubwürdige Beispiele für ihre eigene Lernfähigkeit und Erneuerungsbereitschaft?
  6. Was können unsere Parlamente - von den Gemeinden bis nach Straßburg und Brüssel - tun, damit sie ihre Aufgabe als Foren demokratischer Öffentlichkeit besser erfüllen und überzeugender praktizieren, weil die vom Volk als "Vertreter des Volkes" gewählten Repräsentanten "nur ihrem Gewissen verpflichtet" und trotz aller Einflussnahme von wirtschaftlichen und anderen Einzelinteressen "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden" sind?