60 Jahre Unfreiheit
Hellmut Diwald zum 8. Mai:
»Gedenktage sind Tage der
Besinnung, der Erinnerung, der Bilanz. Der [ ... ] Jahrestag der militärischen
Kapitulation Deutschlands beschäftigt die bundesrepublikanischen Medien seit
Monaten. Die Unverfrorenheit des Versuchs, uns den 8. Mai 1945 als Datum der
Befreiung schmackhaft zu machen, wird nur durch die Schamlosigkeit der
Begründungen dafür übertroffen. Der 8. Mai scheint des Schicksals sicher zu
sein, im Öffentlichen ein Tag der Heuchelei zu werden. Am 8. Mai 1945 wurde in
Europa der Krieg beendet. Wer diesen Tag mit Bewußtsein erlebt hat, wer sich an
ihn erinnert ohne die Beschönigungen, Verzerrungen, Beflissenheiten und Lügen,
mit denen seit Jahrzehnten unsere Geschichte und insbesondere unsere jüngere
und jüngste Vergangenheit ungenießbar gemacht wird, der weiß es besser. Daran
muß jeder von uns festhalten, ohne Konzessionen an das, was bequem ist; was
gern gehört wird von denjenigen, die den politisch‑offiziellen Beifall
spenden. Opportunisten sind die Totengräber der deutschen Selbstbehauptung.
Der 8. Mai 1945 war ein Tag
des Elends, der Qual, der Trauer. Deutschland, das deutsche Volk hatte sechs
Jahre lang im gewaltigsten Krieg aller Zeiten um die Existenz gekämpft. Die
Tapferkeit und Opferbereitschaft der Soldaten, die Charakterstärke und
Unerschütterlichkeit der Frauen und Männer im Bombenhagel des alliierten
Luftterrors, die Tränen der Mütter, der Waisen, wer die Erinnerung daran
zuschanden macht, lähmt unseren Willen zur Selbstbehauptung. Daran sollten wir
am 8. Mai denken.
Die Sieger von 1945 erklären,
für die Rettung der Humanität einen Kreuzzug gegen Deutschland geführt und
gewonnen zu haben. Geführt auch mit den Mitteln eines Bombenkrieges, der das
Kind, die Frauen, die Flüchtenden, die Greise genauso als Feind behandelte wie
den regulären Soldaten. Der Tag der militärischen Kapitulation der deutschen Armee
brachte den Alliierten den Frieden. Abermillionen von Deutschen brachte er die
Hölle auf Erden. Haben die Sieger von 1945 keinen Anlaß danach zu fragen, mit
welchen Verbrechen sie dem Triumph ihres Kreuzzuges für die bedrohten
Menschheitswerte das Siegel aufgedrückt haben? In jenen Friedensjahren nach der
Kapitulation, in denen von Ostpreußen bis nach Jugoslawien Deutsche erschlagen,
hingemetzelt, vergewaltigt, gefoltert, vertrieben wurden ‑ in jenen
Jahren, die man uns jetzt zumutet, als Zeit der Befreiung und Wiege einer
Zukunft zu feiern, die uns zum ersten Mal in unserer tausendjährigen Geschichte
'Freiheit, Recht und Menschenwürde' gebracht haben soll? Denken wir daran am 8.
Mai.
Wer im 20. Jahrhundert einen
Krieg verliert, wird vom Sieger zum Schuldigen und Verbrecher erklärt. Wie soll
man das Wertesystem derjenigen einschätzen, die mit denselben Urteilskategorien
dem deutschen Volk 1945 jede Moral und alle Rechte bestritten und wenige Jahre
später, als deutsche Männer wieder als Soldaten gebraucht wurden, das deutsche
Volk plötzlich als würdig erachteten, westliche und östliche Interessen mit der
Waffe zu verteidigen? Auch daran sollten wir am 8. Mai denken.
Der 8. Mai erinnert uns daran,
daß wir besiegt wurden. Ja, wenn es nur die militärische Niederlage gewesen
wäre. Es hätte nicht einmal das uralte Muster jener Kriege sein müssen, bei
denen die Niederlagen kaum weniger ehrenvoll waren als die Siege. Aber Schuld
eines ganzen Volkes für Verbrechen, die es als Volk nicht begangen hat, weil
ein Volk keine Verbrechen begehen kann, sondern immer nur der Einzelne? Wenn
von Schuld die Rede ist, dann auch von jener Schuld, daß wir nicht die Kraft
und den Mut besaßen, uns gegen die generelle Herabsetzung zu wehren und uns
nicht die Würde rauben zulassen. Standfestigkeit und Unbeirrbarkeit wären um so
nötiger gewesen, als uns das Gift der moralischen Selbstzerstörung Jahr für
Jahr eingeträufelt wurde. Und wir wußten davon ‑ denken wir daran.
Wir haben keinen Grund, den 8.
Mai zu feiern. Feiern sollen diejenigen, die sich für die Sieger halten. Wie
unsere früheren Gegner, die sich heute als unsere Freunde bezeichnen, ihre
Feiern am 8. Mai mit dieser Freundschaft 1945 in Einklang bringen, ist
allerdings nicht nur ihr eigenes Problem. Für uns ist es eine Gelegenheit,
daran zu erinnern, daß die neue Zukunft, die uns von den Siegern 1945 beschert
wurde, für unser Reich das Grab und für Deutschland und das deutsche Volk die
Katastrophe seiner Zerstückelung bedeutete. Die Siegesparaden der früheren
Alliierten werden uns nur zeigen, daß wir noch immer die Besiegten von 1945
sind, daß unser Land besetztes Land ist und unsere regionale Souveränität eine
von Gnaden der Sieger mit Vorbehalten gewährte Souveränität. Daran müssen wir
denken.
Die [ ... ] Wiederkehr des 8.
Mai 1945 ist das Fest der Sieger. Es ist nicht unser Fest. Uns dagegen steht
die Erinnerung an Wahrheiten zu, deren Gehalt von keinem Datum abhängt. Zur
Lebensgeschichte des Einzelnen wie zur Geschichte eines Volkes gehören die Niederlagen
genauso wie die Triumphe. Nur dann, wenn sich der Einzelne, wenn sich ein Volk
selbst aufgibt und sklavisch unterwirft, geht alles verloren ‑ in der
Variante einer Feststellung des römischen Kaisers Mark Aurel: 'Laß dir die
Vergangenheit, laß dir die Zukunft nicht verfälschen. Du wirst, wenn es nötig
ist, schon hinkommen, mit Hilfe derselben Geisteskraft, die dich das
Gegenwärtige ertragen läßt.'«
Der Autor, Hellmut Diwald (13.8.1929 ‑26.5.99), studierte
Geschichte und Philosophie. 1952 promovierte er, dann entschloß er sich an der
Universität zu bleiben. Ab 1958 lehrte er als Professor an der Universität
Erlangen.
Quelle: Bürgerinfo D 105 - Kostenlose Probeexemplare erhalten Sie gegen
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Bochum